Einführung
Kasseler Turcica-Sammlung ist keine (reine) „Türkenbeute“
Osmanische Waffen gelten in vielen europäischen Sammlungen als besondere Kostbarkeiten. Dies liegt nicht nur an der handwerklichen Qualität oder den wertvollen Materialien solcher Kunstwerke, sondern auch am historischen Kontext, in dem sie stehen. Zumeist gelangten Zelte, Waffen und anderes Kriegsgerät als Beute aus den „Türkenkriegen“ des 16. bis 18. Jahrhunderts in den Besitz der damaligen Herrscher. Besonders prachtvolle Waffen kamen aber auch als diplomatische Geschenke und sogar als gezielte Ankäufe in die Sammlungen. Das Verlangen nach derartigen Objekten steht im Zusammenhang mit den Expansionsbestrebungen des Osmanischen Reichs. Europäische Fürsten begegneten der andauernden Bedrohung nicht nur aktiv mit Feldzügen, sondern setzten sich auch im höfischen Leben mit den Osmanen auseinander, etwa in Maskeraden oder mit Schaugefechten bei höfischen Festen und vor allem durch das Sammeln osmanischer Prunkstücke.
Osmanische Waffen: ein neu erschlossener Bestand
In den vergangenen Jahrzehnten haben diese „Turcica“ in deutschen Museen erfreulich viel Aufmerksamkeit erfahren. So publizierten das Badische Landesmuseum und die Rüstkammer in Dresden ihre Bestände in opulenten Katalogen und auch Kassel brachte mit einer reich bebilderten Publikation seine osmanischen Schätze ans Licht der Öffentlichkeit. Die Kasseler Sammlung, die mit einem der sechs in Deutschland erhaltenen Prunkzelte und mit rund 70 Waffenensembles über einen bedeutenden Bestand verfügt, wird durch den Katalog „Löwe und Halbmond. Ein Prunkzelt und Waffen aus dem Osmanischen Reich“ (Imhof 2012) erstmals vorgestellt und in einen historischen Kontext eingeordnet. Mit dem Erscheinen dieses Bandes wird an dieser Stelle eine Online-Datenbank zum Turcica-Bestand freigeschaltet. Sie enthält zusätzliche Detailinformationen sowie reiches Bildmaterial zu Techniken, Maßen, Werkstoffen und zur Herkunft jeder einzelnen Waffe sowie des Zelts. Wir möchten dem Interessierten nicht nur ein tieferes Eindringen in die Materie ermöglichen, sondern wünschen uns auch einen kritischen Austausch, den die Kommentar-Funktion auf dieser Internetseite erlauben soll.
Restauriertes „Türkenzelt“ und Prunkwaffen auf Schloss Friedrichstein
Die osmanische Sammlung der Landgrafen von Hessen-Kassel entstand zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert und war lange Zeit in Kassel ausgestellt. Mit der Einrichtung der jagd- und militärgeschichtlichen Abteilung in Schloss Friedrichstein (Bad Wildungen) fand sie ein neues und geschichtsträchtiges Domizil. So ließ der Erbauer des Schlosses, Graf Josias II. von Waldeck (1636–1669), sein Leben im Kampf gegen die Osmanen. Sein Grabmal in der Stadtkirche von Bad Wildungen zeigt eine Türkenschlacht und wird bis heute von zwei Orientalen flankiert. Es liegt somit nahe, auf „seinem“ Schloss das osmanische Prunkzelt und die orientalischen Waffen zu präsentieren.
Osmanisches Reich und Hessen-Kassel
Das Osmanische Reich (ca. 1299–1923) zählte über Jahrhunderte hinweg zu den Großmächten der Welt und reichte in seiner Blütezeit von Algerien bis zum Persischen Golf, vom Roten Meer bis an die Grenze Österreichs. Araber, Armenier, Griechen oder Ungarn lebten ebenso unter der Herrschaft des Sultans wie die Türken selbst. Entsprechend gab es neben der muslimischen Mehrheit auch christliche und jüdische Minderheiten, die unter islamischem Recht auf Toleranz zählen konnten. Im Herbst 1529 belagerte das osmanische Heer zum ersten Mal Wien und blieb im folgenden Jahrhundert ein gefährlicher Gegner des christlichen Abendlands. Erst mit dem Sieg alliierter Truppen bei der zweiten Belagerung Wiens im Jahr 1683 wendete sich das Blatt. Der große Feind im Osten verlor langsam seinen Schrecken. Die Landgrafschaft Hessen-Kassel war von den Expansionsbestrebungen der Osmanen nur mittelbar betroffen. Das vergleichsweise kleine Territorium mit der Residenzstadt Kassel lag rund 1900 Kilometer von Istanbul und mehr als 800 Kilometer von den Krisenherden in Ungarn und auf dem Balkan entfernt. Dennoch wurde Hessen-Kassel als Teil des Alten Reichs und aufgrund von Bündnisverpflichtungen mehrfach mit den Osmanen konfrontiert. Immer wieder schickten die Landgrafen Landeskinder in den Kampf gegen die „Türcken“.
Neue Forschungsergebnisse in Katalog und Online-Datenbank
Die Studien zu den osmanischen Waffen der Kasseler Sammlung förderten einige unerwartete Ergebnisse zutage. Dies gilt nicht nur für die historische Forschung, sondern auch für die Untersuchung der osmanischen Objekte selbst. Die erstmals gelesenen arabischen Inschriften, die zum Teil neu bestimmten Materialien, aber auch Aspekte der Restaurierung des bedeutenden Prunkzelts werden im Katalog sowie in dieser Online-Datenbank vorgestellt. Dass dies in vergleichsweise kurzer Zeit möglich war, ist der Hilfe zahlreicher Kollegen geschuldet, denen an dieser Stelle herzlich gedankt sei!
Antje Scherner